Wenn dein allerschlimmster Alptraum wahr wird
und du alles verlierst, kommt es darauf an
,
wie tief du das Leben wirklich liebst.

 

Der Himmel drückt herein. In einem dichten Wolkenteppich aus sattem Grau und Schwarz und Dunkelgrün und Gelb verschwindet der Kopf einer jungen Frau. Sie beugt sich in einem baufälligen Raum mit viel Patina und hoher Decke aus dem Fenster. Beide Flügel des Fensters sind weit geöffnet. Es regnet in Perlenketten herein, brüchig gewordene Gardinen sammeln die stürmische Luft in ihren Bäuchen. Bis zum Hals kann man den Rest dieses sehr schlanken Körpers sehen, nackte Füße auf Zehenspitzen stehen in einer stundenlangen Pfütze. Eine schöne Stimme spricht da. Stark und gebrochen, rauchig, in den Höhen stolpernd.

„Manchmal fällt das Leben ziemlich schnell über dich her. Dinge passieren.
Manchmal ketten sie sich aneinander. Und du musst irgendwie klarkommen,
damit du nicht auch noch dich selbst verlierst.“

Eine Suche. Direkt im Himmel. Alles andere, ist nur Realität. Dann, wenn man aufmerksam ist, glaubt man von fern das Gesicht eines Kindes durch die Wolken schimmern zu sehen.

Amber schießt nachts auf ihrer Rennmaschine durch Landstraßen, die sich durch die weite Natur schlängeln. Ein Gewitter gewinnt an Fahrt. Blitze breiten sich am gesamten Horizont aus, noch regnet es nicht, aber der starke Wind wird ihn bringen. Sie fährt, als wäre ihr alles einerlei. Biegt in ein Waldstück, rast einen Berg hinauf. Äste schlagen gegen ihren Helm. Schlingern. Mehr Gas. Über die Kuppe. Fast schon fliegen. Egal.  Auf der anderen Seite des Waldhügels ein Moorsee. Ein LKA Einsatz. Absperrungen, Spezialfahrzeuge, Kunstlicht, Funkverkehr. Halb im Wasser wie versehentlich hingegossen ein Kontrabass. Aus dem Instrumentenkoffer ragen bunte Kabelbäume. Ein Unterwasser Entschärfer im Dienst, neben ihm sein Roboter.
Amber, geblendet durch das grelle Arbeitslicht, verliert in dieser unwirklichen Situation die Kontrolle über ihr Moped und stürzt. Den ganzen Waldhügel hinunter, durch die Absperrbänder der Sondereinsatzkräfte, noch mehr Zusammenstöße mit Geröll und Baumstümpfen. Ein Messer aus Ast pfählt sich durch ihr Schlüsselbein. Schwerfällige Schritte würden gerne zu ihr eilen. Jemand beugt sich zu der Verletzten hinunter. Sie blickt in ein Augenpaar, darin eine Großpackung an entrüsteten Fragezeichen, der Helm, der dieses umhüllt, von absurder Größe und Absicht. Marshmallowmann. Mitten im Denken Ohnmacht. Ein passabler Zustand, jetzt und für alle Zeit! Zuvor war Amber noch so, als hätte sie Joschis Kontrabass ausgemacht, nachdem sie gesucht hat. Auftrag ausgeführt. Beinahe.

Chirurgische Notaufnahme. Amber will sich auf der Liege wegdrehen. Es geht nicht. Ein Arm ist mit einer Schiene fixiert. Eine Infusion tropft sich in ihre Vene. Neben ihr liegt dieser riesenhafte, mattschwarze Helm. Auf den Knien eines Mannes, neben ihr. Gleich wird er aufstehen müssen – Hygienevorschriften. Er sagt dem behandelnden Arzt, er kenne Amber und wisse von Molly. Es ist schön, gleich zwei Mal am Tag ihren Namen von anderen ausgesprochen zu hören. So als würde nicht nur Amber allein wissen, dass Molly gelebt hat. Dann endlich, wird alles wieder dunkel.

Fortsetzung folgt… Aus „Amber Falls“ von Lisa Högg, (c.) 2019, alle Rechte bei Lisa Högg

Die Momente, in denen Menschen wieder beginnen Land zu sehen, müssen nicht staatstragend sein. Oft sind es kleine, flüchtige Regungen. Wie sehr man diese vermisst hat, spürt man erst, wenn sie es wieder wagen aufzutauchen. Eine harmlose Begegnung im Supermarkt, mit dem Mann einer entfernten Freundin, drei, vier Worte hin und her und ein Anschauen, das die Antennen aufrichtet, Schönheit, Anziehung, Wohlwollen, was für eine Lust, wieder mit sich selbst zu flirten und aufregende Dinge für möglich zu halten, Sinnesleistungen, die nicht gefragt waren im Bewältigen schicksalhafter Zumutungen.
Amber wirbelt überschwänglich ihre fast vierjährige Tochter durch die Luft. Das Kind ist nicht dumm, spürt die Besonderheit dieses Augenblickes und hält sich im Zaum, obwohl die eben ertrotzte Kugel Pistazieneis der Zentrifugalkraft zum Opfer fällt. Molly erlaubt sich ein zaghaft heiliges Wundern, „Mama, dein Rücken?“. Egal, die rasante Liebe zum Kind versichernd ein „Egal“ hin gelacht. Die lang ersehnte Berührung mit der eigenen Zuversicht ist Amber in diesem Moment kostbarer als eine überlastete Rückenmuskulatur…