„Vor bald einem Jahr ist meine Ma „Vivi“, mir nichts, dir nichts, vom Fahrrad getropft. Im Tunnel auf dem Weg zur Kinderschreinerei. Mir ruft sie noch hinterher, dass ich nicht so rasen soll, wegen der matschigen Blätter auf dem Weg. Und sie hat den plötzlichen Herztod.

Plötzlich ist immer blöd, weil es auf einmal kein Nachher mehr gibt. Das sorgt dafür, dass das Vorher automatisch auch ein viel zu Kurzes wird. Man will auch nach so einem Plötzlich erst mal kein Nachher mehr haben.

Jetzt ist meine Mama also ein Diamant und wohnt im linken Ohrläppchen meines Vaters. Manche haben ihm das Wort „pietätlos“ entgegengeworfen, aber er hat es nicht aufgefangen, sondern es in der Luft schweben lassen. Emil möchte seine tote Frau noch ein wenig bei sich haben.

Seither aber, das ganze Erdenunrund. Ein einziges Danebengehen. Das Schlimmste, das man einem Menschen mit Wikingerblut in sich antun kann, ist ihn einzusperren. Seine Seele hängt fest und das ganze Universum eiert.“   

Smilla (bald Neun)

Halbe Wikinger wird das Buch/Film zu einer berührenden Komödie um ein trauerndes, halbdänisches Mädchen, das auch unser gängiges Bestattungswesen gehörig unter die Lupe nimmt, bevor sie wieder auf Spur kommt.

Es begann mit den Kohlmeisen. Selten klang ihr Tschiep Tschiep so heiser und aufgebracht, wie an diesem Morgen. Ich ging im Pyjama ans hintere Fenster, das zum Hof zeigte und blickte zu ihnen hinauf. Das Weiße klebte in zerrissenen Fäden am Himmel und das Blaue saugte dazwischen so stark an einem, dass man die Zehen fest in den Teppich krallen musste, um  nicht hochgezogen zu werden. Mein Vater Emil hatte mich mit einem feinen Kuss auf die Augen geweckt, mir zwei Brote mit Glückssternen geschmiert und war dann mit seiner heimlichen Wodkaflasche ins Schlafzimmer verschwunden. Das war mein stilles Stichwort, nun sollte ich mich auch meines Tages annehmen.
Draußen vor der Tür blieb ich stehen. Die Linden hatten angefangen zu duften und die Hummeln brummten durch die Gegend. Eine von ihnen hatte sich in den Speichen meines Fahrrades verfangen, auch dort war nämlich ein dankbarer Ort für Spinnweben entstanden. Fahrradfahren kam für mich eben mehr in Frage. Wäre mein Vater brauchbarer gewesen, hätte er es längst in den Keller geschoben oder einem armen Flüchtlingskind geschenkt, das nicht ans Sterben dabei denken musste. So wurde ich jeden Tag daran erinnert, warum Fahrradfahren das Zeug zum Seelenbrecher hatte.
Dann rannte ich los. Vorbei an einem metallischen Hämmern, das von den beiden Straßenarbeitern herrührte, die die Trambahnschienen ausbesserten. Nicht ablenken lassen! Ich hatte nämlich darauf zu achten, nicht auf die Kanten der Betonfliesen zu treten. Das schien mir dafür verantwortlich zu sein, mir den angestauten Unmut der anderen Leute auf mich zu ziehen, die sich viertelmüde auch in ihren heutigen Tag warfen.
Die Tautropfen waren schuld, dass ich aus meinem Rhythmus schlitterte. Diese hatten sich in den Mauerspalten des Lottoladens verfangen, warfen das Licht der Sonne auf die Kanaldeckel und ließen diese kurz aufleuchten und so aussehen wie Wikingerschilde. Also war mir entgangen, dass die Fußgängerampel wieder auf Rot hüpfte und die wütenden Autos mich weg hupen wollten. Nachdem ich also aufhören konnte, eingefroren zu sein, lief ich nicht etwa vollends über die Straße, sondern tastete mich lieber wieder zurück. Typisch für mich, wird sich vielleicht der Anführer der Nordleute gedacht haben, die mich in einiger Entfernung und seit dem Sterben meiner Mama auf deren Wikingerschiff eskortierten. Männer und Frauen darauf, alle Augen auf mich gezielt. Beinahe regungslos standen sie da. Mit stolzer Brust und nach hinten gespannten Schultern. Die Gischt der tosenden See in ihren Kleidern. Der Platz neben dem baumgroßen Anführer blieb leer. Viel Aufforderung in meine Richtung lag in seinem Blick. Mischgefühle bei mir. Froh, meine Vorfahren bei mir zu haben und neugierig darauf, was sie mit mir vorhatten. Und einen sperrigen Brocken Angst in der Brust, mir könnte es inzwischen egal geworden sein, zwischen richtigen und eingebildeten Welten zu unterscheiden.

Fortsetzung folgt …