Am Anfang steht ein Abschied wider Willen. Die Geschwister Amy und Lee werden von ihrer Mutter verlassen. Ihre „Augensterne“ hat die Mama zur Sicherheit mit einem Seil am Rasenmäherschuppen festgebunden. Was die kleine Amy ins Grübeln bringt, als sie merkt, dass sie sich kaum mehr bewegen kann. Sie zieht an der Leine und hat Sorge, dass sie sich in einen Kettenhund verwandeln könnte. Bellen strikt verboten. Bevor sich ihre Mutter in den Fernbus setzt, trinkt sie ein letztes Mal einen türkischen Mokka und lässt ihren Abschiedsbrief noch einmal Revue passieren: “ Lieber Matthias“, steht da, “ bitte sag den Kindern, dass sie nicht böse auf mich sein sollen und sei es du bitte auch nicht. Ich habe euch entsetzlich lieb, bitte vergesst das nie. Dem Lee musst du zum Kackamachen eine Schneckengeschichte erzählen, erfinde gerne eine selbst, er wird sie mögen, und Amy soll ihren Reißverschluss selber zumachen. Sie kann das. In einer Woche ist Elternabend, geh doch bitte hin, wenn du es einrichten kannst. Meine Sachen kannst du verschenken, aber auch behalten, ich glaube, ich würde mich feuen, wenn sie noch da sind, sollte ich wiederkommen. Bitte verzeih´mir, es bringt mich fast um, und an dieses fast klammere ich mich fest, aber ich kann nicht bleiben. Hab mein Passwort für´s Sparbuch als „Händelbim“ ins Telefon eingespeichert. Nimm, was du brauchen wirst. Und warte nicht auf mich. Sucht bitte nicht nach mir. Ich melde mich, wenn ich aufgehört haben werde, soviel Angst zu haben und es nicht mehr so weh tut in meiner Seele, dass ich euch durch meine Fürchte davon abschneide, ein fertiges Selbst werden zu können. Du bist ja auch noch so ein Kind mit viel Bedarf, zugeben kannst du es wohl nicht.Gib den Kindern Tausend Küsse, jeden Abend, lackiere Amy die Fingernägel, wann immer sie das möchte. Ich denke viel an euch, mehr kann ich nicht versprechen.

Irrgärtnerin (Deine)

P.S. Als Mama, wird man ja zur Hexe und hat doch immer etwas von einem Geheimagenten. Überwachung ist doch gar nicht mein Metier, dieses permanente Beschützen, immer und überall höchste Achtsamkeit und doch weiß ich nie sicher, wo die Fallen besonders widerwärtig lauern. Immerzu rieche ich Gefahren schon von weitem, ich sehe sie in weiten Bahnen über ihren Opfern kreisen, bevor sie sich blitzschnell herunterstürzen. Ich kann nicht mehr auf dem Sprung sein, meine Fäuste ballen, losschlagen und gegensteuern, nie wissen, was kommt. Es war nicht mehr genug, mich hinterm Haus zu verstecken und einen Joint zu rauchen und über mein Muttersein nachzudenken. Alle möglichen Leute treten zurück, kündigen, annulieren Verträge. Könner streichen Abfindungen ein oder fürstliche Zuwendungen auf das Altenteil. Wenn ich mich also gefragt habe, sobald meine Lungen mit illegaler Ruhe angefüllt waren, ob man nicht als Mutter ein stattliches Gehalt beziehen sollte, quoll sogar mal ein halbes Grinsen aus mir heraus. Aber glaube nicht, dass keine echten Wunden entstehen, während man so tut, als würde man lachen.