Wie er immer aß. Wie er fraß. Schaufelte Käse, Brot, Joghurt, alles was sich so fand, in sich hinein. Tief hinein, als könne er seine Lebensängste fressend beruhigen oder müsste sie – wären sie erst einmal tief verborgen im Fett – überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen.

Was nicht klappte. Fand Lena. Und hatte es Ottmar oft gesagt, hatte ihn gewarnt vor einem rachsüchtigen Alter, in dem die Ängste dreister und die Abwehrkräfte schwächer würden, immer wieder hatte sie ihn angebettelt, sich anzusehen, was er tue mit sich, selbst das Wort Therapie hatte sie ihm vorsichtig hingehalten und ein verächtliches Schmatzen zur Antwort bekommen. „Therapie“, rief Ottmar, „ich bin doch nicht krank, Therapie“, kläffte er im weibischen Ton, „dir ist wohl abhandengekommen, dass ich ein Mann bin. „Stopp“, bellte er,“ Stopp!“, und nannte ihr Reden Psychogedampfe.

Er drehte ab, widersetzte sich ihre Worte aufzunehmen, die dann in der Luft baumelten und nicht wussten, wohin, und zurückkamen zu Lena, die sie wütend auf ein Blatt Küchenrolle schrieb, weil man sie ja irgendwo lassen musste. Schließlich!

Nun war kein Platz mehr in Lenas Mund. Nicht die kleinste Prise der Genugtuung kam ihr über die Lippen. Ihr Wohnzimmer hatte sich gefüllt mit eilfertigen Männern, die sich um Ottmar kümmerten. All zu weit wollte sich sein Oberkörper gar nicht aufbäumen, als die Notärzte mit Defibrillatoren sein Herz zur Einsicht und Umkehr zu bewegen versuchten. Lena fand den Vorgang im Fernsehen imposanter. Ihre Sorge galt auch ihrem schlafenden Enkelkind nebenan. Was bekommt es hiervon mit, wird es seelisch Schaden nehmen? Wie konnte es schlafen bei all dem Toben? Die Funkgeräte der Feuerwehrmänner pfiffen laut, die Wohnungstür fiel dauernd mit dem Geräusch einer herabfallenden Axt halb ins Schloss, schon kam der nächste Lebensretter. Stieß sie wieder auf. Luftzug.

Auf dem Perser querbeet aufgebrochene Ampullen, aufgerissene Einwegverpackungen, Pflasterstreifen, silberne Koffer, Gerätschaften. Hatte jemand nach Ottmars Krankenversicherungskarte gefragt? In seiner hirschledernen Brieftasche.

Ottmar mit seinem Jogginganzug am Leib. Kam vom Laufen. Zehn Kilometer in dreißig Minuten mit zwanzig Kilo Übergewicht. Auch eine Antwort. Seine Antwort. Lena fiel fast auf sein Kammerflimmern. Über das schwarze Kabel der Kugellampe neben dem Fernseher war sie gestolpert. Die Sicherungen raus. Alles dunkel, Mon Dieu! Es wird wohl Lena gewesen sein, die wieder für Strom gesorgt hatte. Auch dafür ließ sich noch ein Schuldgefühl finden bei ihr. Hätte sie ihm doch mehr zusetzen sollen? „ Du gehst zum Arzt, oder ich war die längste Zeit deine Geliebte“. Hätte sie ihm ihre Ahnung vorhalten sollen, dass sein Herz nicht groß genug sein würde, um es allen Recht zu machen?

Bitteschön! Jetzt zerbrach es.

Sie hatten ihn wieder. Doch ein Mann seines Kalibers wird nicht über drei Stockwerke die Treppen hinunter getragen. Was nun kam hätte Ottmar gefallen.

„Der Showman verlässt die Anstalt“, las Lena über ihn vor einer langen Weile in der Zeitung, als sie ihn noch gar nicht persönlich kannte.Über Intrigen war er gestolpert, ein Gefallener der Unterhaltungsbranche. Auf der Trage liegend wurde er dem Feuerwehrmann auf der hydraulischen Rettungsleiter zugereicht, der vor Lenas Wohnzimmerfenster fest Position bezogen hatte. Um auch noch all ihre Fragen – wie lange war Ottmars Gehirn ohne Sauerstoff, wird er die Nacht überstehen, was wird nun werden? – mit in seinen Rettungskorb zu nehmen, um sie gemeinsam mit Ottmar im Feuerwehrkran hinunter zur Erde zu verschaffen. Oder würde Lena alle Worte diesmal in der Luft hängenlassen? Zwischen all dem Leben und zwischen all dem Sterben?

Fortsetzung folgt …

(c.) persönliches Eigentum von Lisa Högg